Wahrheit: Meinen, Glauben, Wissen?

von Michel Voisard

Wie soll man über etwas sprechen, über das konsequenterweise nicht gesprochen werden kann: Das konstitutive und das radikale Aussen? Ein Aussen, das alle Ordnungen stört. Wittgenstein würde wohl schweigen, andere nicht. Letztere können der Kategorie ‚Poststrukturalismus’ zugeordnet werden oder, in anderer Vereinfachung, als Denker des Zusammenbruchs von Sinn bezeichnet werden. Die Radikalisierung, die solches Denken vermittelt, reicht von der Umstellung von Identität zu Differenz und von beobachtbarem zu radikalem Aussen.

Wer den Befund einer unmöglichen Ordnung konstatiert, sieht sich der Frage gegenüber, was das, worüber er spricht, denn noch ‚sei’, bzw. worüber sinnvollerweise noch gesprochen werden kann. Ein Dilemma, das vor allem die Soziologie betrifft, ist es doch ihr erklärtes Ziel, Aussagen über die Gesellschaft zu machen, sie zu beschreiben, und Gesellschaft so als ein wie immer geartetes Ordnungsgefüge erscheinen zu lassen.

Wird so die Frage, was Gesellschaft ist, unentscheidbar? Und wird das, was über Gesellschaft ausgesagt wird, zu nichts weiter als partieller, vorläufiger und – vor allem, unabgeschlossener Sinnfixierung?

Folgt man den Paradoxa einer Wahrheit, die, als Differenz gedacht, einen Teil ihrer selbst a priori ausschliesst und so keine ‚ganze’ mehr sein kann – und was wäre eine halbe Wahrheit noch?, oder denjenigen eines Sinnes, der vom zerfallenen Sinn, also über den Nullwert des Nicht-Sinns, nur sinnvoll sprechen kann, kommt man nicht umhin, folgende Fragen zu beantworten:

  • Können überhaupt noch wahre bzw. sinnvolle Aussagen gemacht werden?
  • Welche Aussagekraft bzw. welcher Wert kann Aussagen noch beigemessen werden?
  • Welche Kriterien der Legitimation (aber auch Legitimation wofür und durch wen?) können (noch) geltend gemacht bzw. eingefordert werden?

Oder anders ausgedrückt: Bezeichnet man diese Denkart als Schema, das Schemata grundsätzlich verwirft, indem schonungslos deren Grundlosigkeit bzw. die Unmöglichkeit vollständig präsenter oder gesättigter Positivität aufgezeigt wird, wird damit zugleich, zumindest auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, selbst die Grundlage solcher Aussagen verworfen, da sie, auf sich selbst angewandt, ihre eigenen Konstruktionen wieder dekonstruieren müsste. Aussagen, also (Theorie-)Entscheidungen, werden unentscheidbar und können folglich nur noch in Form von offenen Paradoxa, verdeckten Selbstwidersprüchen, in Form der ‚Vorläufigkeit’ gemacht werden. Sie müssten mit dem Hinweis auf Kontingenz als Aussage unter anderen möglichen Aussagen deklariert werden, oder mit raffinierten Formulierungen bzw. Begriffsbildungen den Anspruch der eigenen Unabschliessbarkeit bekräftigen.

Aussagen, die dem „Schema der Grundlosigkeit“ folgen, also versuchen, ihr ‚Aussen’ stets mitzuführen, erkennt man leicht an ihren eigentümlichen, meist paradox gehaltenen Formulierungen. Ihre charakteristische Sprache mit ihren spezifischen Begriffen hat jedoch den Nachteil, stark gewöhnungsbedürftig zu sein, da sie ihre Aussagen stets in der ‚Schwebe’ halten müssen, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Dieses anfängliche Unbehagen beim Lesen solcher Texte ist nicht zuletzt einfach Effekt spezifischer, oft inflationär verwendeter Begriffe.

Hier zum Selbsttest eine Auswahl: Gleiten, flottieren – prekär, zerstückelt, gespalten – einheitslos, diskontinuierlich, dezentriert, inkommensurabel – unabgeschlossen, irreduzibel, unentscheidbar – imaginär, subversiv, monströs – Abgrund, Differenz, Scheitern – im Fluss, Spiel, Supplement – Dissoziation, Nicht-Identität, Nicht-Sinn, Verkennung – Mangel, Leerstelle, Überschuss – Exzess, Aufsprengung, Verausgabung.

Lässt man sich auf ein Spiel mit solchen Ausdrücke ein, droht der Grund verloren zu gehen, und gerade dies ist Absicht: Theorien sollen endgültig von ihren metaphysischen Implikationen befreit werden. Aussagen über die Welt, die zumindest implizit den Anspruch haben, wahr zu sein, geraten in Widerstreit, weil die Bedingungen der Möglichkeit aller Aussagen weder Eindeutigkeit noch Vollständigkeit zulässt: Wahrheit wird unentscheidbar , der ‚ultimative Grund’ ist Grundlosigkeit. Eine Feststellung, die wie das Theorem des Konstruktivismus bzw. wie alle Axiome nicht auf sich selbst angewandt werden bzw. hinterfragt werden kann, da sonst das beobachtende System ins Oszillieren gerät und im Hin und Her zwischen den Polen irgendwann den Punkt erreicht, an dem es sich vollends erschöpft oder zu implodieren droht.

Welche Möglichkeiten bleiben der Soziologie angesichts dieser Erkenntnisse? Wie kann Durkheims Forderung, die ‚faits sociaux’, wie Dinge zu betrachten, überwunden und in eine neue Konstruktion gefasst – in der Sprache des Poststrukturalismus: dekonstruiert, werden? Welchen Wert haben Konstruktionen, welche die Theoreme sowohl des Konstruktivismus als auch des Poststrukturalismus berücksichtigen? Diejenigen des Konstruktivismus, der die Möglichkeit eines Beobachtungsstandpunktes ausserhalb des Untersuchungsgegenstandes, eines letztes Elementes oder der eines transzendentales Prinzip verwirft, an dem über die vollkommen evidente Wahrheit einer Aussage bzw. die richtige Repräsentation einer Theorie entschieden werden könnte; diejenigen des Poststrukturalismus , der das von ihm dekonstruierte Material mit eigenen, also von aussen zugefügten Begriffen, von metaphysischen Implikationen zu befreien und in dessen Lücken und Brüchen er neue Horizonte zu konstruieren versucht?

Welchen Wert haben also Aussagen, die sowohl ,Beobachterabhängigkeit’ berücksichtigen – zumindest theoretisch gesehen sind dies so viele, wie es Systeme gibt, in der Praxis also eine nahezu unendliche Anzahl – als auch ,Dislokation’, ‚Supplement’, ‚Différance’ bedenken und damit ‚Aussagen’ von vornherein unmöglich machen, da sie nunmehr weder geschlossen, gesättigt, noch identisch sein können? Ist die soziologische Perspektive, angesichts dieser Erläuterungen, die eines temporär fixierten Diskurses, der unmögliche Aussagen enthält, die von unendlich vielen, gleichberechtigten Systemen geäussert werden können? Ist diese Perspektive der einzige Ausweg aus dem Dilemma, das durch theoretische Erwägungen erst geschaffen wurde?

Der Rahmen des Konstruktivismus scheint nach wie vor aktuell, trotz allen Kontingenzbewusstseins. Er wird auch von Poststrukturalisten genutzt, wenn sie dekonstruieren. Doch wie kann in Anbetracht theoretisch unmöglicher Aussagen noch von Konstruktion gesprochen werden, die ja immer ihre eigene Brüchigkeit mitführt? Die Dimension der Wissensproblematik ist anhand der hier aufgeworfenen Fragen deutlicher geworden. Weder sind diese Fragen abschliessend, noch können sie alle beantwortet werden. Klar scheint, dass bereits mit diesen wenigen Fragen jede (Theorie-)Ordnung gestört wird.

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